Es gibt Bilder, die vermögen ein ganzes Leben zu fassen – nicht nur das eines einzelnen Menschen, sondern das eines ganzen Volkes, sein Woher und Wohin, sein ganzes Glück und Scheitern inklusive, auch wenn man das vielleicht erst mit dem Abstand von 30 Jahren erkennen kann. Andreas Rost ist so ein Bild gelungen, 1990 in Leipzig, jetzt zu sehen in einer Serie des Künstlers mit Fotografien aus dem Nachwendejahr. „1990 – Fotografische Positionen aus einem Jahr, über ein Jahr“ heißt die Ausstellung, die am 28. Februar im Brandenburgischen Landesmuseum für moderne Kunst (BLMK) am Standort Dieselkraftwerk Cottbus eröffnet wurde.
Mauerfall – Glücksfall – Sündenfall
Rosts Bild zeigt eine Menschenansammlung im Frühjahr 1990, die Gesichter ebenso angespannt wie erwartungsvoll erhoben zu einem imaginären Himmel, der nicht zu sehen ist. Die Hände sind ausgestreckt oder wenigstens bereit dazu. Sie halten Geld, neues Geld, bereit und strecken sich nach dem Glück, das hier in Form eines Plastikbeutels herabgereicht wird. Im Beutel zeichnen sich Bananen ab. Der Segen kommt vermutlich von der Ladefläche eines Lkw. Nur die Hand des Mannes, der ihn bringt, ist zu sehen. Sie erscheint am oberen Bildrand, und tatsächlich ähnelt sie so losgelöst und schwebend, jener Hand Gottes auf Michelangelos „Erschaffung des Adam“. Rost gibt dem Bild damit eine Metaebene, die weit über den Augenblick hinausweist: Der Mauerfall als Glücksfall der Geschichte, doch im Einzug ins Paradies ahnt man auch schon den Sündenfall und das Erwachen in Ernüchterung.
Aus dem umfangreichen Bestand des BLMK sowie Leihgaben hat Kustodin Carmen Schliebe eine beeindruckende Rück-Schau auf „1990“ aus der individuellen Sicht von 16 Foto- und Videokünstlern zusammengestellt. Leipzig als Ausgangsort der friedlichen Revolution steht dabei mit Bilderserien von Andreas Rost und Gerhard Gäbler im Zentrum und exemplarisch für die folgenden Entwicklungen in Ostdeutschland. Mit Donald Saischowa und Jürgen Matschie sind aber auch regionale Lausitzer Künstler vertreten, die zeigen, dass die vermeintliche Provinz zwangsläufig von den Wellen der Veränderung mitgerissen wurde beziehungsweise ihren Teil einforderte. So hat Matschie beispielsweise dokumentiert, wie Menschen in Bautzen oder Görlitz schon früh gegen den weiteren Verfall ihrer Innenstädte protestierten.
Die Schönheit der Einzelnen
Der Umbruch in Betrieben und in Innenstädten, die ersten freien Wahlen zur Volkskammer, die noch im selben Jahr vom neu gewählten Bundestag abgelöst werden sollte, die Erstürmung der Stasizentrale in der Normannenstraße in Berlin, die Währungsunion, die keine Warenunion, sondern eine Warenschwemme aus dem Westen zur Folge hatte; die deutsche Einheit – das alles haben Fotografen und Kameraleute nicht nur dokumentarisch, sondern vor allem in den Gesichtern, der Beteiligten festgehalten. Und spätestens vor den Frauenporträts der Serie „Endzeit“ von Ingrid Harmetz stellt man staunend fest: Aus der Uniformität der genormten DDR und der Uniformität von aufgewühlten Massendemonstrationen gerissen, wirken diese Gesichter für sich genommen schön. Sie strahlen eine Würde aus, die in der DDR nicht verloren und mit ihr nicht untergegangen ist.
Die Ausstellung „1990 – Fotografische Positionen aus einem Jahr, über ein Jahr“ ist noch bis 17. Mai im BLMK am Standort Dieselkraftwerk Cottbus zu sehen.
Das Buch zur Ausstellung
Der Bild- und Textband „Das Jahr 1990 freilegen“ ist während der Ausstellung im BLMK für 36 Euro erhältlich. Die bei Spector Books erschienene Publikation wurde von dem Leipziger Kulturwissenschaftler und Verleger Jan Wenzel konzipiert und vom BLMK koproduziert.
In ihr finden sich viele der ausgestellten Bilder, aber auch viele weitere darüber hinaus. Sie werden flankiert und kommentiert von Zeitdokumenten – vom Protokoll des Runden Tisches am Tag der Besetzung der Normannenstraße, dem Zeitungsbeitrag der Leipziger Volkszeitung, der die ernüchternde Wirklichkeit der ersten Misswahlen in Leipzig über Interviews mit und Notizen von Zeitzeugen bis hin zur literarischen Aufarbeitung in 32 Geschichten von Alexander Kluge. Das ist auf 591 Seiten so detaillierte und zugleich spannende Lektüre, dass es wirklich leicht gelingt, die in 30 Jahren vielleicht etwas verschüttete Erinnerung an 1990 freizulegen, das Jahr, das alles veränderte.